Nachhaltigkeit statt Gewinn: Ein Blick auf die Gemeinwohl-Ökonomie

Nachhaltig leben ist als Einzelperson schwer genug – noch komplizierter wird es für Unternehmen und Institutionen mit zahlreichen Anspruchsgruppen und vielen Baustellen, an denen sie ökologischer handeln könnten. Um Orientierung für alle Aspekte der Nachhaltigkeit zu bieten, hat sich die Gemeinwohl-Ökonomie mit der Gemeinwohl-Bilanzierung entwickelt. Wir haben mit dem Münchner Öko-Energieversorger Polarstern gesprochen, die die Gemeinwohl-Ökonomie bereits leben.

Was bedeutet Gemeinwohl-Ökonomie?

Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein Wirtschaftssystem, das auf  gemeinwohl-fördernden Werten aufgebaut ist und ein gutes Leben für alle anstrebt. Damit unterscheidet sich die Gemeinwohl-Ökonomie vom Kaptialismus (Ziel: Gewinnmaximierung)  oder dem Sozialismus (Ziel: Freiheit und Gleichheit für alle Bürger), weil mehr Bereiche umfasst werden.

Die Idee eines am Gemeinwohl orientierten Wirtschaftssystems ist nicht neu, wurde aber erst vor wenigen Jahren neu aufgelegt: 2010 veröffentlichte Christian Felber aus Österreich sein Buch zur Gemeinwohl-Ökonomie und entwickelte die Idee der  Gemeinwohl-Bilanzierung. Die Gemeinwohl-Ökonomie orientiert sich an der Triple-Bottom-Line: So sollen Unternehmen zusätzlich zum geschäftlichen auch ökologisch und gesellschaftlich nachhaltig handeln. Die Gemeinwohl-Bilanzierung dient zum Vergleich, wer am besten in Hinblick auf die Kriterien der Bilanzierung abschneidet und damit am gemeinwohlfreundlichsten ist. Noch wichtiger: Die einzelnen Organisationen lernen durch die Bewertung, in welchen Bereichen sie großen Entwicklungsspielraum haben, um noch nachhaltiger zu handeln, und können ihre Strategie darauf ausrichten.

Eine Gemeinwohlbilanz können Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Gemeinden erstellen, die Mitglied in einem Verein der Gemeinwohl-Ökonomie sind. Die Bewertungskriterien sind in einer Matrix zusammengefasst. Wie die einzelnen Bereiche konkret bewertet werden, lässt sich hier nachlesen.

Dazu erstellt die Insitituion einen Bericht über die Handlungen zu den einzelnen Bereichen. Dieser Bericht wird anschließend von externen Prüfern bewertet. Dabei werden die Bereiche einzeln bewertet, sodass eine Relation zwischen ihnen entsteht. Das zeigt Unternehmen auf, wo sie sich am meisten weiterentwicklen können und wo sie als nächstes Schritte ergreifen sollten, aber auch, wo man schon ganz gut abschneidet. Diese Bilanz wird für viele Unternehmen und Organisationen erst einmal ernüchtern ausfallen: Es sind maximal 1.000 Punkte zu erreichen, aber auch minimal -3.600 Punkte.

Warum tun sich Unternehmen so etwas an? Wir haben mit Polarstern gesprochen, einem gemeinwohl-bilanzierten Öko-Engergieversorger, der voll und ganz hinter dem Konzept steht.

Polarstern Logo

Quelle: Polarstern

„Nachmachen ist erwünscht!“

„Ja, eine Gemeinwohl-Bilanzierung ist wahnsinnig viel Aufwand“, erzählt Anna Zipse von Polarstern. Allle zwei Jahre muss das Unternehmen zu den vielen Aspekten der Gemeinwohlmatrix recherchieren, Daten sammeln und für die Prüfern nachvollziehbar machen, was aktuell für das Gemeinwohl getan wird. Bei Polarstern ist das jede Menge, von der Produktion von ‚wirklich Ökostrom‚ über den Polarstern Isar-Cleanup (nächster Frühjahr 2019) bis zu Mieterstrom und Biogasanlagen in Ländern der dritten Welt.
„Als Unternehmen ist unser Ziel nicht der Umsatz X pro Jahr, sondern der Beitrag, dne wir zur globalen Energiewenden leisten können. Und der Klimawandel bleibt nun mal an Landesgrenzen nicht einfach stehen“, erklärt Anna. „Deswegen engagieren wir uns nicht nur in Deutschland mit der Herstellung von Ökostrom, sondern wollen beispielsweise in Mali durch das Installieren von Biogasanlagen aktiv sein.“

Mit etwa 30 Mitarbeitern und einem geringen Anteil am deutschen Energiemarkt ist Polarstern an der Größe gemessen ein kleiner Player – dafür mit vielen innovativen Projekten und Ideen, die frischen Wind in die Energie-Landschaft bringen sollen. Hier fällt die Gemeinwohlbilanzierung einfacher als in anderen Unternehmen, einfach weil das Unternehmen sozial gegründet worden ist und alle Mitarbeiter von Anfang an mit an Bord waren. In größeren Unternehmen müssen erst einmal alle Mitarbeiter für solche Schritte gewonnen werden. Und die wenigsten Unternehmen arbeiten in ihrem Heimatland sozial und nachhaltig und steuern gleichzeitig Projekte in Entwicklungsländern.

Genau hier sieht Anna von Polarstern eines der Probleme: Viele Unternehmen scheuen sich, überhaupt anzufangen, weil sie noch nicht gut genug seien, für eine Gemeinwohl-Bilanzierung. „Es geht in der Bewertung nicht darum, der Beste zu sein, sondern sich an den Werten zu orientieren und an der Bewertung zu wachsen.“
Klar ist die Umsetzbarkeit für große Unternehmen schwierig, insbesondere mit so vielen Punkten und Anspruchsgruppen, die es zu beachten gibt. Aber auch eine ’niederschmetternde‘ erste Bilanz mit mehreren tausend Minuspunkten bietet wertvollen Input, in welchen Bereichen man sich weiter entwickeln kann, und Kontakt zu anderen Insitutionen, von denen man lernen kann.

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Quelle: pexels.com

Der hohe Aufwand der Bilanzierung für Unternehmen ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist die Gemeinwohl-Ökonomie mit ihrer Bilanzierung für die Verbraucher momentan noch nicht alltagstauglich einsetzbar: Ein Gemeinwohl-Bericht umfasst über hundert Seiten – das ist nichts, was man im Supermarkt mal schnell durchblättert, bevor man sich für das eine Produkt entscheidet oder für das andere.
„Ideal wäre ein Ampelsystem wie mit dem Zuckergehalt von Lebensmitteln, nur eben für die Gemeinwohlverträglichkeit“, meint Anna. „So wäre das für den Verbraucher direkt anwendbar.“
Momentan ist die Gemeinwohlorientierung für die Verbraucher durch die langen Berichte schwierig einzuschätzen. Einige Unternehmen haben Nachhaltigkeit direkt in ihrer DNA, denen nimmt man eine Gemeinwohl-Orientierung eher ab – andere müssen sich diese Außenwirkung erst noch erarbeiten.

„Es braucht konkrete Beispiele, damit sich Unterehmen, aber auch Verbraucher etwas unter Gemeinwohl vorstellen könnnen.“ Unter anderen deshalb stellt sich Polarstern der Gemeinwohl-Bilanzierung: Man will Vorreiter sein, die Idee greifbar machen und sie dadurch weiter verbreiten. „Klar ist die Gemeinwohl-Ökonomie noch nicht perfekt, das wäre ja langweilig.  Aber man kann nicht nur von außen zuschauen, sondern wirklich etwas bewegen kann man nur, wenn man es auch macht“, beschließt Anna.

Die Gemeinwohl-Ökonomie – ein Fazit

Die Gemeinwohl-Ökonomie ist in großen Teilen noch eine Vision: Für Unternehmen bietet sie wertvolle Impulse, aber viel Aufwand in der Erstellung. Für Verbraucher könnte es Einblicke bieten, ist aber viel Aufwand, alles zu lesen. Derzeit wird die Gemeinwohlökonomie von gut 2.500 Unternehmen unterstützt, in Deutschland bilanzieren etwa 250 Unternehmen nach der Gemeinwohl-Bilanz (Stand: 2016).

Andererseits muss es das Ziel sein, dass Nachhaltigkeit ein Teil des ganz normalen Wirtschaften von Unternehmens wird – also dass es nicht mehr die CSR (Corporate Social Responsibility)-Kommunikation gibt, und dann eben die normale Kommunikation, sondern Nachhaltigkeit und Wirtschaft müssen miteinander verschmelzen. Wenn neben der Umwelt auch noch die Gesellschaft eingebunden wird, wie in der Gemeinwohl-Bilanzierung, umso besser. Die Gemeinwohl-Bilanzierung ist übrigens auch als CSR-Bericht, der seit 2018 für Unternehmen verpflichtend ist, zugelassen. Deshalb lohnt es sich für Unternehmen und Institutionen, sich mit dem Thema Gemeinwohl auseinanderzusetzen und sich möglicherweise auch bilanzieren zu lassen – um neue Ideen zu bekommen, wie man sich in welchen Bereichen am besten und effizientesten weiterentwickeln kann. Und damit das für Unternehmen und Institiutionen leichter gelingt, sind Vorbilder wie Polarstern extrem wichtig (deshalb wurde das Unternehmen auch zum Innovator des Jahres 2019 gekürt).

Erste Schritte zu mehr Gemeinwohl

Auch wenn es noch nicht das ganze Unternehmen mit einer Gemeinwohl-Bilanz ist, gibt es Schritte zu mehr Nachhaltigkeit und Gemeinwohl-Orientierung:

  • als Privatperson: Nutze den Online-Gemeinwohl-Test und finde heraus, wie du in den einzelnen Bereichen abschneidest, und wo du duch weiter entwicklen kannst.
  • als Arbeitnehmer: Sei Vorbild in deinem Unternehmen, zum Beispiel in dem du weniger ausdruckst, nachhaltige Essensentscheidungen in der Mittagspause triffst oder auf einen Dienstwagen und Flüge verzichtest.
  • als Abteilungsleiter oder Entscheider: Mache deinen Mitarbeitern den Weg zu nachhaltigerem und gemeinwohl-orientiertem Leben leichter – zum Beispiel durch firmeneigene wiederwendbare Boxen für Mittagessen To Go, durch Angebote für Bahn-Cards statt Dienstautos und durch die Schaffung von Mitbestimmungsmöglichkeiten.
  • als Unternehmen, Bildungseinrichtung oder Institution: Sammelt Informationen über den Umwelt- und Gesellschaftseinfluss der Institution. Die Gemeinwohl-Matrix kann auch ohne eine Bilanzierung spannende Bereiche aufzeigen, auf die man achten sollte.

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